Elses Erben

Lindenstraße 1985 bis 2015 - 30 Jahre Lindenstraße, laßt uns darüber im Lindenstraßenforum schnacken.
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 Betreff des Beitrags: Folge 1798 - Sozialstunden
BeitragVerfasst: So 5. Sep 2021, 07:47 
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Folge 1798: Sozialstunden

Spieltag: Donnerstag, 02.09.2021


Mandy hat in der vergangenen Woche immer wieder an David denken müssen. Zeitweise fragt sie sich, ob es nicht doch ein Fehler war, ihm an dem Abend vor dem Akropolis so abzuservieren. Der war so nett – und sie hatte schon so lange keine Verabredung mehr mit einem Mann… Aber dann denkt sie wieder, dass es besser so ist. Wer weiß, wie lange es ihr noch gut geht, bis die verdammte Krankheit wieder zuschlägt – und wie lange sie dann noch zu leben hat… Eine Beziehung wäre nahezu perspektivlos. Und die Zeit, in der es ihr noch gut geht, will sie voll und ganz nutzen, um für ihre Kinder da zu sein – Jeremy und Phoebe sind das Wichtigste in ihrem Leben…
Später will sich Mandy mit Iris zum Mittagessen im Akropolis treffen. Da ihre Kinder bei Freunden sind, nutzt sie den Vormittag, um noch ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen, und holt Iris anschließend aus ihrer Praxis ab. Als sie sich gerade auf den Weg zum Griechen machen wollen, entdeckt Mandy David an einem Tisch vor dem Marcellas – in Gesellschaft einer Frau, die augenscheinlich doch ein paar Jahre zu alt für ihn sein dürfte. Mandy bleibt wie angewurzelt stehen und starrt zu ihnen rüber.
„Was ist?“ fragt Iris verwundert.
„Da ist er wieder“, flüstert Mandy.
„Ach!“ Jetzt hat auch Iris ihn entdeckt. „Dein netter Handtaschen-Retter.“
„Er heißt David“, erklärt Mandy ihr.
„Aha“, macht Iris. „ So weit seid ihr also schon?“
„Nein, sind wir nicht“, murrt Mandy und setzt den Weg zum griechischen Restaurant fort.
Währenddessen sind David und seine Tante Ines vor dem Marcellas mit ihrem Imbiss fertig.
„Wann musst du denn jetzt eigentlich zurück nach Rom?“ möchte David von ihr wissen. „Hast du nicht gesagt, im Herbst?“
„Ja, nächsten Monat war angedacht“, antwortet Ines nachdenklich. „Es kann aber sein, dass sie mich noch länger hier behalten. Es gibt noch was für das Unternehmen zu erledigen, was über meine eigentliche Tätigkeit als Dolmetscherin hinaus geht. Also, wenn sie mich lassen… Die waren ja letzthin leider nicht so zufrieden mit den Ergebnissen, die ich geliefert habe…“
„Ergebnisse?“ wundert sich David. „Was musst du denn da machen?“
„Das darf ich gar net sagen“, erwidert Ines eilig. „Datenschutz und so. Ist ja auch wurscht, wär eh zu kompliziert, das alles zu erklären.“
„Was genau macht ihr da eigentlich?“ bohrt David weiter.
„Auch das ist jetzt zu kompliziert zu erklären“, wehrt Ines ab.
„Komisches Unternehmen, für das du da arbeitest“, befindet David – und wechselt zur Erleichterung seiner Tante das Thema…
Im Akropolis erzählt Mandy Iris derweil von ihrer erneuten Begegnung mit David und dass er sie offenbar gerne näher kennengelernt hätte – sie das aber abgeblockt hat.
„Aber warum denn?“ fragt Iris. „Das hätte dir bestimmt gut getan, mal deine Zeit mit jemand anderem zu verbringen, jemanden näher kennenzulernen…“
Doch Mandy wehrt ab. Als Vasily das Essen serviert, schweigt sie einen Moment, bis er wieder außer Hörweite ist, dann bringt sie wieder ihre Erkrankung als Argument hervor.
„Das darfst du ihm natürlich nicht verheimlichen“, sagt Iris. „Aber das ist doch kein Grund, dich wie eine Schnecke in deinem Häuschen zu verkriechen. Du tust immer so, als wäre deine Krankheit etwas, wofür du dich schämen müsstest.“
„Nein, tu ich nicht“, widerspricht Mandy empört.
„Doch! Als Vasily gerade das Essen gebracht hast, hast du direkt aufgehört zu reden.“
„Ja, weil den mein Privatkram ja nun wirklich gar nichts angeht“, erwidert Mandy gereizt.
„Aber dieser David ist doch nett“, gibt Iris nicht auf. „Mit dem könntest du doch darüber reden.“
„Du glaubst doch wohl nicht, dass der Bock hat, sich mit einer Todkranken zu daten“, echauffiert sich Mandy. „Das hat doch null Zukunft.“
„Aber das weißt du doch gar nicht“, lässt Iris nicht locker. „Und außerdem will er dich ja nicht gleich heiraten, er will sich doch einfach nur mit dir verabreden.“
„Ja, aber wenn man sowas macht, dann hat man dabei auch den Hintergedanken, das mehr daraus werden könnte“, nörgelt Mandy.
„Wenn man sowas macht, hat man vor allem erstmal den Hintergedanken, sich ein bisschen besser kennenzulernen und zu gucken, ob es überhaupt passen KÖNNTE…“
„Ja, aber wenn dann einer von beiden eine tödliche Krankheit hat, dann ist ja wohl sehr schnell klar, dass es nicht passen wird“, beharrt Mandy. „Und deshalb kann man’s dann auch genauso gut lassen, dann wird auch niemand enttäuscht.“
„Also ich seh das anders“, gibt Iris ihren Standpunkt nicht auf. „Und wenn du Glück hast, dauert es noch mehrere Jahre, bis der Krebs wieder ausbricht.“
„Und wenn ich Pech hab, bin ich in einem halben Jahr tot!“
„Ich denke, dass es für deine Psyche sehr gut wäre, wenn du einen netten…“
„Schluss jetzt, ich will nicht mehr darüber reden.“
„Die Psyche hat auch oft einen gewaltigen Einfluss darauf, wie es uns körperlich geht“, redet Iris einfach weiter. „Der Spruch `in einem gesunden Körper lebt ein gesunder Geist` ist jetzt nicht so verkehrt…“
„Iris, BITTE! Ich will das einfach nicht! Akzeptier das doch endlich!“
Doch Iris bleibt skeptisch. Und kann es sich am Abend nicht verkneifen, auch mit Alex über das Thema zu reden.
„Du willst die beiden jetzt aber nicht miteinander verkuppeln, oder?“ fragt Alex misstrauisch. Iris’ darauf folgendes Schweigen, ist ihm Antwort genug.
„Oh, nein, Iris, bitte nicht!“ bekniet Alex sie. „Mandy hat schon recht, das geht uns wirklich überhaupt nichts an. Und sie hat wohl auch ohne deine Einmischerei genug Probleme, meinst du nicht?“
Iris schweigt noch einem Moment. Dann sagt sie: „Da sind zwei Menschen, die sich offensichtlich näher kennenlernen wollen. Und es tut mir in der Seele weh, mir mit anzusehen, dass das nicht möglich sein soll, nur weil da so eine beschissene Krankheit im Weg steht.“
„Nur ist gut“, findet Alex. „Das ist ja wohl ein immenses Problem. Iris, misch dich da bitte nicht ein, versprich mir das!“
„Ich geh ins Bett“, erwidert Iris nur und verschwindet im Schlafzimmer. Und Alex sieht es schon auf sich zukommen, dass Iris sich natürlich doch wieder einmischen wird...

Valerie wird bereits am Morgen vor dem Frühstück Zeugin einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen Iffi und Antonia – und genießt das Schauspiel in vollen Zügen.
„Fräulein, ich möchte nicht, dass du so auf die Straße gehst“, zetert Iffi. „Diese Teil ist viel zu knapp. Was sollen die Leute denken? Du rennst ja fast schon rum wie diese Popo Wolfson! Wo hast du das überhaupt her?“
„Gekauft“, erwidert Toni nölend.
„Will dieser Karim etwa, dass du so rumrennst?“ fragt Iffi. „Ich weiß ja nicht, ob der dir wirklich gut tut... Und ich würde den schon ganz gerne allmählich mal kennenlernen. Er ist immerhin ein Araber. Bei denen weiß man nie, was die gerade im Schilde führen mit ihrem komischen Frauenbild...“
„Boah, geht das jetzt schon wieder los“, mault Antonia.
Es fliegen weitere böse Wortfetzen, Türen knallen... Und Valerie ist im höchsten Maße amüsiert über den Mutter-Tochter-Disput.
„Wer hätte früher jemals gedacht, dass du mal so werden würdest“, gluckst die ältere der Schwestern, als sie später alleine in der Küche sind.
„Spielst du jetzt wieder auf meine Figur an?“ fragt Iffi gereizt und verdreht genervt die Augen.
„Nee, eher darauf, dass du so eine entsetzliche Spießerin geworden bist“, lacht Valerie. „Ausgerechnet du Wildfang. Mann o Mann, was hast du früher alles ausgefressen. Und jetzt bist du so eine strenge Übermutter geworden. Unglaublich. Und ein bisschen faschistisch bist du auch drauf, gell?“
Iffi ist zutiefst empört. „Ich bin kein bisschen faschistisch“ , schimpft sie. „Man wird sich ja wohl noch Sorgen machen dürfen, wenn die eigene Tochter einen Freund hat, der aus einem völlig anderen kulturellen, religiösen und ethnischen Umfeld stammt. Noch dazu, wenn man diesen Freund bislang nicht mal kennengelernt hat.“
„Wenn Toni nach dir kommt, dann muss man sich auf jeden Fall Sorgen machen“, stichelt Valerie weiter. „Du warst ja schon mit 15 schwanger. Von Momo. Mit dem du vorher wochenlang im Wohnwagen gehaust hast. Sachen hast du gemacht…“
„Dafür musste ich im Gegensatz zu dir wenigstens nie einen Freund erfinden“, kontert Iffi böse, ehe sie ohne jedes weitere Wort die Wohnung verlässt, um zur Arbeit zu gehen.
Valerie hofft derweil darauf, endlich Nachricht vom Krankenhaus zu kriegen wegen ihrer Bewerbung. Ob sie dort selbst nochmal nachfragen sollte? Sie sieht dann lieber doch davon ab – es würde sicher keinen guten Eindruck machen, einen potentiellen neuen Arbeitgeber so zu bedrängen. Stattdessen begibt sich Valerie zum Einkaufen in den Supermarkt. Als sie sich in die Schlange an der Kasse einreiht, steht vor ihr… Lisa.
Auch das noch… Diese Begegnung ist ihr seit ihrer Rückkehr bislang erspart geblieben.
„Hallo“, sagt Lisa, als sie Valerie erkennt.
„Hi“, antwortet Valerie kurz angebunden.
„Ich hab schon gehört, dass du wieder da bist“, versucht Lisa zögerlich eine Konversation zu beginnen.
„Mmmhmm“, macht Valerie und betrachtet scheinbar hochinteressiert die Süßigkeiten, die vor der Kasse ausliegen.
„Es tut mir leid… wie das damals zwischen uns gelaufen ist“, sagt Lisa. „Ich hab mich wirklich echt schäbig benommen.“
In Valeries Augen blitzt es böse auf. „Ach, du hast dich schäbig benommen“, zischt sie. „Schön, dass dir das nach fast 19 Jahren auch mal auffällt. Du wusstest genau, wie sehr ich Alex geliebt habe. Aber es hat dich einen Dreck interessiert, wie es mir damit geht.“
Valeries Stimme wird immer lauter und Lisa sieht sich verlegen um, weil die anderen Kunden schon gucken.
In diesem Moment taucht Paul auf, um seine Kollegin an der Kasse abzulösen.
„Das ist übrigens Paul“, erklärt Lisa Valerie. Diese sieht fassungslos zwischen den beiden hin und her. Dann keift sie los: „Alex‘ Sohn?! Du sagst mir einfach frech und unverblümt ins Gesicht, dass das Alex‘ Sohn ist! Alex‘ und dein Sohn! Das sollte eigentlich MEIN Sohn sein!“ Dann lässt sie ihren vollen Einkaufswagen einfach stehen und stürzt mit Tränen in den Augen aus dem Supermarkt.
„Wer war das?“ fragt Paul irritiert.
„Das erzähl ich dir später“, flüstert Lisa und blickt ihr geschockt hinterher.
„Und wieso sollte ich IHR Sohn sein?“ fragt Paul völlig perplex.
„Geht das jetzt mal hier weiter?“ beschwert sich eine Kundin am Ende der Schlange.
Lisa vertröstet Paul mit einer Erklärung auf den Abend, um den Verkehr nicht unnötig aufzuhalten.
Valerie läuft derweil erstmal ziellos durch die Gegend, um wieder runterzukommen. Als sie sich halbwegs beruhigt hat, beschließt sie, ihren Vater zu besuchen.
„Der Andy ist grad net da und ich muss ins Café“, erklärt Gabi. „Aber du kannst hier gern auf ihn warten, er kommt gleich zurück.“
Während Valerie alleine in der Wohnung sitzt und auf die Rückkehr ihres Vaters wartet, klingelt ihr Handy.
„Steinmetz hier“, begrüßt sie der Leiter des Krankenhauses mit Grabesstimme. „Es geht nochmal um Ihre Bewerbung.“
„Haben Sie meinen Vertrag fertig?“ fragt Valerie hoffnungsvoll.
Steinmetz atmet hörbar ein, dann sagt er: „Also... die kleine Lücke in Ihrem Lebenslauf, seit Beginn des Jahres... Herr Lobrecht... also, wie soll ich sagen? Herr Lobrecht ist immer sehr... korrekt...“
„Aber ich habe Ihnen doch schon erklärt...“, beginnt Valerie.
„Herr Lobrecht hat diesbezüglich ein wenig nachgeforscht“, unterbricht Steinmetz sie. „Er hat Ihren ehemaligen Arbeitgeber in Mexiko per E-Mail kontaktiert.“
Valerie trifft diese Information wie ein Schlag ins Gesicht. Sie möchte etwas erwidern, doch ihre Kehle ist wie zugeschnürt.
„Sie können sich sicherlich denken, was er dabei in Erfahrung gebracht hat?“ fragt Steinmetz.
Valerie versucht krampfhaft, zu sprechen, doch der Kloß in ihrem Hals wächst und sie bringt nur ein undefiniertes Keuchen hervor.
„Frau Zenker“, sagt Steinmetz ernst. „Ich bin überzeugt davon, dass Sie eine gute Krankenschwester sind, die hervorragende Arbeit zu leisten imstande ist...!“ Er macht eine längere Pause, dann setzt er fort: „Aber Sie können sich wohl denken, dass unter diesen Umständen ein Arbeitsvertrag zwischen uns nicht zustande kommen kann - Fachkräftemangel in der Pflege hin oder her. Aber mit Ihrer... Vorgeschichte können wir Sie definitiv nicht bei uns einstellen.“
Valerie schweigt weiter. Ihr wird abwechselnd heiß und kalt und die Gedanken in ihrem Kopf rasen wie eine Achterbahn mit dreifachem Looping.
„Ihnen dürfte bewusst sein, dass wir uns auf unsere Mitarbeiter hundertprozentig verlassen können müssen“, setzt Steinmetz seinen Vortrag fort. „Und die psychische Konstitution unserer Mitarbeiter.... Ich weiß nicht, ob es für Sie nicht ratsam wäre, sich nach etwas ganz anderem umzusehen. Sich beruflich nochmal völlig neu zu orientieren... Ansonsten sollten Sie tatsächlich erstmal eine konsequente Psychotherapie in Anspruch nehmen, ehe Sie ernsthaft wieder darüber nachdenken, in ihren Beruf zurückzukehren.“
Valerie schweigt weiter. Steinmetz flüstert: „Alles Gute für die Zukunft, Frau Zenker!“ Dann legt er auf...
Valerie starrt immer noch fassungslos auf das Handy in ihrer Hand, als Andy nach Hause kommt.
„Hey Valle“, begrüßt er seine Tochter. „Gabi hat mir unten schon erzählt, dass du auf mich wartest.“ Dann bemerkt er Valeries Gesichtsausdruck und fragt: „Ist irgendwas passiert?“
Valerie starrt immer noch auf ihr Handy und flüstert: „Das war das Krankenhaus.“
„Ja, und was wollten sie?“ fragt Andy. „Haben Sie dir jetzt etwa doch eine Absage erteilt?“
Valerie schluckt und starrt weiterhin schweigend auf das Telefon.
„Valle?“ bohrt Andy.
„Ich soll morgen zur Vertragsunterzeichnung kommen“, sagt Valerie hastig. „Am 1.Oktober kann ich anfangen.“
„Na, ist doch prima“, freut sich Andy. „Die wären aber auch schön blöd gewesen, wenn sie dich nicht genommen hätten.“
Doch Valerie ist kaum noch in der Lage, sich mit Andy zu unterhalten, und verabschiedet sich nach einem kurzen Besuch wieder mit der Ausrede, sie habe noch etwas zu erledigen.
Zurück in der Kastanienstraße erklärt Roland, dass er gekocht habe, und fragt Valerie, ob sie mitessen möchte. Doch sie lehnt ab und verkriecht sich in ihrem Zimmer, wo sie weiterhin von wilden Gedankenfahrten geplagt wird.
Derweil ist Paul zu Besuch bei Lisa und Murat und erfährt von seiner Mutter die ganze Geschichte darüber, wie sie sich damals mit Alex eingelassen hat und dann von ihm schwanger wurde, obwohl sie genau wusste, wie unsterblich Valerie in ihn verliebt war – die damals immerhin ihre beste Freundin war… Lisa befürchtet bereits, dass Paul ihr wegen dieses Kapitels ihres Lebens nun auch noch Vorwürfe machen wird, doch der sieht die Sache recht gelassen und findet lediglich, dass das Ganze damals maximal dumm gelaufen sei…
Valerie wälzt sich derweil unruhig in ihrem Bett umher und ist sich bewusst, dass es noch viel zu früh zu schlafen ist und dass sie ohnehin heute schwer zur Ruhe kommen wird. Aber sie möchte heute keineswegs mehr Iffi, Roland und Antonia unter die Augen treten müssen. Valerie weiß auch nicht, wie es beruflich nun mit ihr weitergehen soll. Nur über eine Sache ist sie sich im Klaren: Ihre Familie darf auf gar keinen Fall jemals erfahren, was sich in Mexiko abgespielt hat – denn das würden sie ihr sicherlich niemals verzeihen können…

„Bist du aufgeregt?“ möchte Tanja beim Frühstück von Simon wissen.
„Warum?“ fragt der, „die werden mich schon nicht auffressen.“
„Immerhin hast du noch nie in der Pflege gearbeitet“, meint Tanja. „Und Sozialstunden sind ja auch kein gemütlicher Ferienjob.“
„Ich werd’s überleben“, erwidert Simon gelassen.
Sunny hält sich aus der Unterhaltung der beiden komplett raus und scheint sich wieder einmal gedanklich in einer ganz anderen Welt zu befinden.
Als Simon sich später auf den Weg zur Seniorenresidenz begibt – nachdem er Tanja wiederholt zu verstehen gegeben hat, dass sie ihn nicht bringen soll, sondern er mit dem Fahrrad fahren möchte – ist seine Coolness dann doch ziemlich verflogen und er ist nervöser, als er zugegeben hätte.
Pünktlich um 9 Uhr findet er sich zum Gespräch im Büro der Heimleiterin Renate Peters-Bachmann ein. Die Frau macht auf ihn weder einen besonders freundlichen noch einen unsympathischen Eindruck, sondern verhält sich konsequent sachlich und professionell. Sie erklärt ihm im Groben, welche Aufgaben ihn während seiner Sozialstunden erwarten und teilt ihm mit, dass ihre Einrichtung sehr gerne dabei hilft, junge Menschen so resozialisieren, und dass der Kontakt zwischen jungen und alten Menschen ein gegenseitiges Geben und Nehmen sei, aus dem beide Altersgruppen etwas für sich mitnehmen können.
„Die Einzelheiten deiner Tätigkeit besprichst du mit Stationsschwester Heike“, erklärt die Heimleiterin, während sie Simon zur Station 2 des Hauses führt. „Mit ihr stimmst du auch deine genauen Zeiten ab, übernächste Woche musst du ja schließlich auch wieder zur Schule, das muss ja auch alles koordiniert werden.“
Auf der Station 2 angekommen, lernt Simon dann Stationsschwester Heike Schiffer kennen – und muss sich ziemlich schnell eingestehen, dass er es dann doch lieber weiter mit Frau Peters-Bachmann zu tun hätte. Dass die pummelige Frau um die 50 keineswegs ihrem, auf den ersten Blick eigentlich ganz sympathisch wirkenden Äußeren gerecht wird, wird Simon sich binnen Sekunden bewusst. Schwester Heike führt ihn in herrischem Ton über die Station und verschafft ihm einen kurzen Überblick über alles, ehe sie ihn an seine erste Aufgabe setzt: Das Desinfizieren von Dusch- und Toilettenstühlen, Bettpfannen und Urinflaschen… Simon wird für diese Aufgabe in ein Pflegebad verbannt. Während er diesem Job so gewissenhaft wie möglich nachzugehen versucht und dabei bereits inständig hofft, dass sein erster Tag hier bald zu Ende gehen möge, erklingt hinter ihm plötzlich ein: „Na, wen haben wir denn das…?“
Simon dreht sich um und entdeckt William, der hinter ihm in der offenen Tür steht und interessiert seine Tätigkeit begutachtet.
„Hallo, Herr Brooks“, sagt Simon leise.
„Der kleine Weinknecht, richtig?“ entgegnet William.
„Schildknecht. Simon.“
„Alright“, erinnert sich William. „Ich hab schon gehört. Du machst hier Community hours… ähm… Sozialstunden.“
Simon nickt und widmet sich wieder seiner Aufgabe.
„Ich hab gehört, du hast jemanden vom Kran geschubst“, sagt William nach einer Weile.
Simon dreht sich fassungslos zu ihm um. „Ich hab niemanden geschubst“, erwidert er empört.
„Das sagen sie alle“, entgegnet William.
Er beobachtet den Jungen noch eine Weile, dann brummt er: „Na, besonders gesprächig bist du ja nicht gerade.“
Als von Simon keine weitere Reaktion erfolgt, zieht der alte Brooks wieder von dannen.
Nachdem Simon seine Aufgabe erledigt hat, begibt er sich auf die Suche nach Oberschwester Heike, um in Erfahrung zu bringen, was er als nächstes tun soll. Dabei landet er im Gemeinschaftsraum des Wohnbereichs, wo sich mehrere der Bewohner aufhalten, darunter auch William, der ihm sogleich zuwinkt, in Gesellschaft einer Frau.
„Darf ich euch bekannt machen“, grölt William. „Das ist Simon. Und das ist meine reizende Mitbewohnerin Luise.“
„Guten Tag“, sagt Luise freundlich.
„Hallo“, entgegnet Simon.
„Ich hab schon gehört“, sagt Luise. „Du machst hier Sozialstunden.“
„Simon hat jemanden umgebracht“, brummt William.
Luise sieht einen Moment lang fassungslos zwischen ihrem Mitbewohner und dem Jungen hin und her, dann lacht sie: „Ach, William, du Scherzkeks. Erzähl doch nicht immer solche Schauergeschichten. Am Ende glaubt dir das noch jemand.“
„SIMON!?!“ ertönt in diesem Moment Schwester Heikes schrille Stimme vom Flur her.
„Ich bin hier!“ antwortet Simon.
„Der Ruf des Drachen“, murmelt William und Luise beginnt amüsiert zu kichern.
Im nächsten Moment steht Schwester Heike in der Tür. „Was machst du hier?“
„Ich hab Sie gesucht“, antwortet Simon. „Ich bin fertig.
„Na gut“, erwidert Heike. „Ich kontrollier das. Du kannst ja mal fragen, ob jemand von den Herrschaften hier vielleicht Lust hat, etwas mit dir zu spielen.“
Simon sieht sich fragend um und Luise ergreift das Wort: „Kannst du Canasta?“
„Ein bisschen“, sagt Simon.
„Na, dann zeig ich dir jetzt, wie es richtig geht“, beschließt Luise.
Minuten später sitzen die beiden am Tisch und spielen Karten, während William im Hintergrund ab und an mal sarkastische Bemerkungen vom Stapel lässt, die die beiden Spieler jedoch ignorieren. Luise fragt die ganze Zeit über kein einziges Mal nach dem Grund für Simons Sozialstunden, wofür dieser ihr sehr dankbar ist.
„Ich hab eine neue Aufgabe für dich!“ Schwester Heike steht in der Tür des Raumes, als Simon und Luise gerade ihr Spiel beendet haben. „Du gehst jetzt in das Zimmer 224. Hier links runter und dann ganz am Ende des Flures. Herr Finkelstein möchte, dass du ihm etwas vorliest.“
„Der Juuuude“, brummt William in seinem Sessel mit unheilschwangerer Stimme.
„Herr Finkelstein ist sehr belesen, aber seine Augen machen das leider nicht mehr mit“, erklärt Schwester Heike. „Er ist über 90, aber geistig noch voll auf der Höhe. Leider zieht er sich sehr aus dem Gruppengeschehen hier zurück. Er bleibt am liebsten in seinem Zimmer. Umso besser, wenn er mal Gesellschaft hat. Also räum die Karten weg und hurtig!“ Damit ist Heike bereits wieder verschwunden und William brüllt ihr nach: „Ay, ay, Sir!“
Luise grinst und sagt: „Geh nur, ich räum die Karten schon weg“
„Aber pass auf“, warnt William. „Der frisst kleine Jungs zum Nachtisch.“
Luise schüttelt den Kopf. „Er ist ein bisschen eigen“, erklärt sie. „Aber eigentlich ganz in Ordnung.“
„Ein Stockfisch ist er“, knurrt William.
„Er wurde schon als Kind in ein Konzentrationslager deportiert“ , erklärt Luise. „Jahrelang hat er dort überlebt. Und dabei seine ganze Familie verloren. Seine Eltern. Seine Geschwister. Seine Großeltern. Ich denke, das hat er nie ganz verkraftet, das hat ihn sein ganzes Leben lang verfolgt.“
„Ich habe auch viel Krieg und Elend erlebt, während meiner Zeit bei der Army“, zetert William. „Trotzdem bin ich nicht so ein Stockfisch.“
„Da scheiden sich die Geister“, meint Luise augenzwinkernd, während sich Simon auf den Weg zum „Juden“ begibt. Als er das Zimmer betritt, verschlägt es Simon kurzzeitig den Atem. Die Luft ist zum Schneiden dick und riecht alt und abgestanden. Der Raum ist abgedunkelt und wird nur durch eine kleine Tischlampe in einer Ecke ein wenig erhellt. Ibraim Finkelstein sitzt in der dem Licht entgegengesetzten Ecke des Raumes, weshalb Simon ihn im ersten Moment übersieht und sich fast zu Tode erstreckt, als der alte Mann sich plötzlich in seinem Lehnstuhl regt.
„Mach die Tür zu, der Unrat kommt sonst rein“, krächzt Finkelstein mit brüchiger Stimme.
Simon befolgt hastig seine Anweisung und steht dann unschlüssig im Zimmer.
„Du willst mir vorlesen?“ fragt der Alte. „Dann setz dich!“
Von Wollen kann keine Rede sein, denkt Simon und fragt: „Können wir ein bisschen mehr Licht machen?“
„Nein!“ krächzt der Alte bestimmt.
„Aber zum Lesen…“
„Setz dich an den Tisch mit der Lampe“, knarzt Finkelstein, „da dürftest du genug Licht haben. Das Buch liegt gleich neben der Lampe, fang ruhig am Anfang an.“
Simon nimmt zögerlich Platz. Auf dem Tischchen liegt “Ein Landarzt“ von Franz Kafka. Simon hält das Buch zunächst unschlüssig in den Händen, bis Finkelstein ihn anfährt: „Nun mach schon, mir läuft die Zeit davon!“
Stockend beginnt Simon zu lesen – und wird nach wenigen Minuten von Finkelstein unterbrochen: „Was ist das denn für ein Geleiere? Bist du Legastheniker oder was?“
„Nein“, sagt Simon hastig. „Aber…“
„Aber was? Na los, weiter. Liest du mir nun vor oder nicht?“
Und so setzt Simon seine Vorlesestunde fort – und hat es dabei sehr schwer, es dem alten Mann recht zu machen. Ständig unterbricht er Simon, kritisiert seine Aussprache und seinen Lesestil, verlangt nach mehr Betonung… Doch irgendwann entlässt er Simon aus seinem Dienst als Vorleser.
„Wenn du das nächste Mal hier bist“, sagt Finkelstein mit seiner knarzenden Stimme, „können wir weitermachen.“
„Sicher?“ fragt Simon irritiert – schließlich hatte er das Gefühl, dem Mann gar nichts recht machen zu können.
„Würde ich es sonst sagen?“ zischt Finkelstein mit giftigem Unterton.
„Okay“, erwidert Simon und macht sich bereit zum Gehen.
„Was hast du angestellt?“ fragt Finkelstein. „Für eine geklaute Tafel Schokolade bekommt man keine Sozialstunden.“
„Ich hab jemanden umgebracht“, sagt Simon und verlässt schnell das Zimmer, ehe der Alte etwas erwidern kann.
Im Anschluss wird er auch von Schwester Heike aus seinem heutigen Dienst entlassen, froh darüber, bereits den ersten Bruchteil seiner Sozialstunden abgeleistet zu haben.
Tanja ist am Abend natürlich sehr neugierig, wie es gelaufen ist und löchert ihren Sohn, doch der verhält sich wieder mal sehr einsilbig.
Als Simon sich später in sein Zimmer zurückgezogen hat, Sunny einsam im Bad an ihrem Leid nagt und Tanja zumindest versucht, dem Film im Fernsehen zu folgen, klingelt es an der Tür.
„Wer ist das denn jetzt noch?“ murrt sie. Und als Sunny keine Anstalten macht, ihre Höhle zu verlassen und die Tür zu öffnen, rafft Tanja sich schließlich selbst auf.
„Guten Abend, mein Name ist Heike Schiffer“, stellt sich die pummelige Frau vor. „Sind Sie Simons Mutter?“
„Ja!?“ erwidert Tanja überrascht.
„Ist Simon auch da?“ fragt die Frau mit gereizter Stimme.
„Worum geht’s denn?“ fragt Tanja, ruft aber im nächsten Augenblick nach ihrem Sohn, ohne Heikes Antwort abzuwarten.
„Was ist denn?“ Simon ist im Flur erschienen und ebenfalls sichtlich irritiert über das Auftauchen der Stationsschwester.
„Herr Finkelstein beschuldigt dich, eine goldene Taschenuhr aus seinem Zimmer entwendet zu haben“, kommt Heike gleich zu Sache.
„WAS?“ fragen Simon und Tanja gleichzeitig.
„Herr Finkelstein und auch ich wären bereit, von einer Anzeige anzusehen, wenn du mir die Uhr wieder aushändigst“, erklärt Heike. „Deine Sozialstunden wirst du natürlich nicht mehr in unserem Haus fortsetzen können. Ich werde mich morgen an die Behörde wenden und ihnen sagen, dass es einfach nicht passt mit dir und sie dir einen anderen Platz zuteilen sollen.“
„Aber ich hab die Uhr nicht“, verteidigt Simon sich, „ich weiß überhaupt nichts von einer Uhr!“
„Diese Uhr ist sehr alt und sehr wertvoll“, teilt Heike ihm mit. „Und für Herrn Finkelstein hat sie vor allem einen ideellen Wert. Sie ist das Letzte, was er noch von seinen Eltern besitzt.“
„Simon, hast du vielleicht aus Versehen…?“ fragt Tanja.
„Nein“, empört sich Simon.
„Das hat man nun davon, wenn man versucht, jugendliche Straftäter zu resozialisieren“, murmelt Heike kopfschüttelnd. „Gib mir jetzt die Uhr, sonst gehe ich umgehend zur Polizei.“
„Ich hab keine Scheiß Uhr“, fährt Simon sie an. Und dann an Tanja gewandt: „Mama, ehrlich nicht. Das musst du mir glauben…“

CLIFFHANGER auf: Tanja Schildknecht

Mitwirkende Personen
Simon Schildknecht
Tanja Schildknecht
Sunny Zöllig
William Brooks
Dr. Iris Brooks
Alex Behrend
Mandy Peschke
Jeremy Peschke
Phoebe Peschke
Vasily Sarikakis
David Krämer
Ines Krämer
Andy Zenker
Gabi Zenker
Valerie Zenker
Iffi Zenker
Antonia Zenker
Roland Landmann
Murat Dagdelen
Lisa Dagdelen
Paul Dagdelen
Luise Fröhlich
Ibraim Finkelstein
Heike Schiffer
Renate Peters-Bachmann
Prof. Johann Steinmetz

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Das Leben besteht zu 10% aus dem, was dir passiert und zu 90% daraus, wie du darauf reagierst
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